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BRIGHTON
Szenen einer Küstenstadt
Zum Getöse der Möwen aufzuwachen, mit ihrem Geschrei im Ohr einschlafen. Dazwischen träumen wir Meeresträume, angefüllt mit salzigen Gerüchen, windverwehten Gedanken. Und irgendwo in den Enden unseres Geistes ein fernes Lachen, Jahrmarktlichter…
Es ist unsere erste Reise nach Brighton, tatsächlich sogar unser erstes Mal in einem dieser alten britischen Seebäder überhaupt. Sonnige Tage und strahlend blauer Himmel lassen uns das graue englische Wetter vergessen, dass wir eigentlich erwartet hatten.
Wir mischen uns unter die einheimischen Teenager und die Touristen, die Tag für Tag an den steinigen Strand kommen. Es ist der Versuch diesen Sommer in die Unendlichkeit zu verlängern. Während wir die verwitterten hölzernen Planken des Brighton Palace Pier entlang schlendern, fühlt es sich nicht an wie Oktober. Denn in diesem Jahr weigert sich der Sommer schlichtweg, die Szene zu verlassen.
An jedem dieser letzten Sommerabend wandelt sich der Himmel aufs Neue in ein Gemälde. Eine Leinwand voller Gelb-, Orange- und Rottöne, die sich auf dem Ozean spiegeln. Jeden Tag stehen wir wieder dort und bewundern dieses Kunstwerk. Und fragen uns: Worin liegt die Magie, die uns Menschen auch noch den millionsten Sonnenuntergang unseres Lebens staunend betrachten lässt?
Die knalligen Farben, wandeln sich langsam zu Pastell. Die allerletzten Sonnenstrahlen nehmen sie mit sich. Rot wird zu Pink, dann zu Lila, gefolgt von hellen und nach und nach dunkleren Blautönen. Bis der Horizont schließlich den Himmel mit der See vermählt.
Während sich der Vorhang der Nacht über die Szenerie legt, ist es Zeit für den großen Auftritt des Brighton Palace Pier. Unzählige Glühbirnen sind nach und nach angesprungen. Inzwischen strahlen etwa 67.000 und vollenden den Eindruck in einer längst vergangenen Zeit gelandet zu sein: Wir stehen mitten auf einem Rummel, umgeben von Buden und Spielen und Aufregung.
Es ist der Charme der Vergangenheit, der unseren Geist erfüllt. Gleichzeitig zwingt uns eine Brise, merklich kühler nun, unsere Jacken enger zu ziehen. Langsam überkommt uns Wehmut. Über einen Sommer, der sich nun doch langsam verabschiedet.
Wir verbringen die letzten Stunden des Tages in schummrigem Kerzenlicht. In der Bücherwand hinter uns stapeln sich historische Bücher. Geschichten über Seemänner, gebunden in rissigem Leinen. Und die „reserviert“-Schilder erzählen von Stammgästen und Schachclubs.
Die Bar ist gut besucht, alle Tische und der Tresen belegt. Gelächter mischt sich mit der weltvergessenen Sorglosigkeit eines Straßeneckenpubs. Für einen Abend werden Fremde zu Freunden. Angefüllt von Whiskywärme und Gemütlichkeit geht der Tag zuende.
Im morgendlichen Halbschlaf die Möwen zu hören, hilft dabei sich zu Verorten. Und in der Routine des Morgenkaffees liegt eine warme Behaglichkeit, obgleich wir diese meist erst nach der ersten Tasse zu schätzen wissen.
Zu unserem Glück haben wir in Brighton den perfekten Ort für unsere verschlafenen Morgen-Selbsts gefunden. Wenn wir noch nicht bereit sind, direkt in den Stadttrubel geworfen zu werden:
Bei „Coffee at 33“ können wir die morgendliche Ruhe genießen. Zuerst die gestrigen Erinnerungen vorbeiziehen lassen. Dann Pläne für heute schmieden und vielleicht auch schon von morgen träumen. Während wir am besten Kaffee Brightons nippen, und Körper und Geist langsam erwachen.
Wir hätten auch den ganzen Tag hier verträumen können, denn Kaffee ist Kaffee ist Kaffee. Doch nachdem wir unsere Müdigkeit abgeschüttelt haben, raffen wir uns auf. Zeit für eine Entdeckungstour durch Brightons Gassen und Gässchen. Viele von ihnen sind reine Fußgängerzonen, die trotz des steten Flusses an Menschen eine entspannte Atmosphäre verströmen.
Weil wir nicht wirklich auf der Suche sind, lassen wir uns einfach mit dem Strom treiben. Hier und da halten wir für ein Foto – oder eine weitere Tasse Kaffee. In North Laine gibt es anscheinend nichts, was man nicht findet: Schrullige Shops mit absurden Vintage-Fundstücken und Künstler, die ihre besten Werke anbieten. Ein irres Sortiment an Dekoartikel und sogar Möbel finden sich hier. Und mittendrin ziemlich solide Plattenläden. Selbstverständlich landen ein paar Nick Cave Platten in unserem Besitz, hier in seiner langjährigen Heimatstadt.
Die bequem laufbaren Straßen wandeln sich in ein Gewirr aus engen Gassen, als wir durch die sogenannten „Lanes“ laufen. Im historischen Stadtcenter fühlen wir uns beinahe wie in einem orientalischen Bazaar. Ein merkwürdiger Ort. Eine der Gassen ist ausschließlich mit Juwelieren bestückt, während wir in einer anderen plötzlich vor einem Schokoladen-Laden stehen, der direkt aus „Charlie und die Schokoladenfabrik“ zu stammen scheint. Der Name: „Choccywoccydoodah“.
Es git Ramsch und Trödel aller Art direkt neben glitzernden Diamanten und Luxusshops. Wie schon am Abend zuvor am Kirmes-Pier, fühlen wir uns auch hier wie in einer längst vergessenen Filmszene. Und nach einer weiteren Kurve in diesem Labyrinth, finden wir uns urplötzlich auf der Hauptstraße wieder. Sie ist überfüllt mit Menschen und Lärm und an uns vorbei brausenden Doppeldecker-Bussen. Es dauert einen ganzen Moment uns selbst wieder in dieser Wirklichkeit zu verorten.
Inzwischen erscheint die Rückkehr zum Strand irre verlockend. Einfach nur die salzige Luft einzuatmen und die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Jedoch gibt es noch eine weitere Merkwürdigkeit auf unserer Brighton-Liste, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Inmitten des chaotischen Stadtzentrums liegt eine kleine grüne Oase, die „Pavilion Gardens“. Den Namen hat der Park vom außergewöhnlichen Bauwerk übernommen, der in seiner Mitte thront: Der „Royal Pavilion“.
Betrüblicherweise ist es drinnen nicht erlaubt zu fotografieren, denn ein großer Teil der Dekoration und Möbel sind im Besitz der königlichen Familie.
Um diese Kuriosität zu beschreiben, müssen also Worte versuchen auszureichen: Es ist ein eklektischer und exotischer Palast. Extravagant und kunstvoll, theatralisch und prächtig, aber gleichzeitig auch ein wahnwitziger und irrer Traum. Und zwar der Traum eines dekadenten Mannes mit einer großen Liebe für Architektur und Kunst: König George IV.
Er ließ seinen privaten Rückzugsort in einen „Vergnügungspalast“ verwandeln. Angefüllt mit unzähligen Kronleuchtern, Baldachinen und Öllampen. Überall Kerzen und feinstes Porzellan. Säulen, die wie Palmen geformt wurden, auf deren Blättern die Kuppel-Dächer des Palastes ruhen. Und schließlich massive goldene Drachenskulpturen, die als vermutlich extravaganteste Vorhanghalterungen aller Zeiten fungieren. Es mag schlicht größenwahnsinnig klingen, aber es ist gleichzeitig eine Kuriosität, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Alle Sinne völlig überladen, brauchen wir nun wirklich ein wenig Erholung vom Trubel. Es ist Zeit eine von Brightons besten Eigenschaften wertzuschätzen: Die Nähe zur Natur ringsum.
Also setzen wir uns kurz in den Bus und schon ist die Hektik der Stadt vergessen. Direkt hinter Brightons Yachthafen beginnt der „Undercliff Walk“. Entlang der weißen Kreideklippen wandern wir Kilometer um Kilometer. Wir betrachten die Formen und Texturen der Steine und lauschen den Wellen, die direkt unter unseren Füßen an Land schlagen. Und wir genießen Aussicht auf die Küstenlinie, obgleich diese sich nur ganz gemächlich und kaum merkbar verändert. Einatmen, ausatmen, nicht denken, nicht reden.
Wenngleich es für uns undenkbar ist, je genug vom Meer zu haben, nutzen wir die Zeit auch noch für einen weiteren Ausflug. Denn auch die Hügel und Wiesen von Sussex liegen direkt vor Brightons Türschwelle. Mit geschnürten Wanderschuhen lässt sich so ein Teil des „South Downs Way“ erkunden. Oder auch eine kurze Wanderung mit Essen und Wein auf einem der Weingüter der südenglischen Küste kombinieren.
Eines wird sich für uns niemals ändern: Dieser seltsame Moment am allerletzten Tag angelangt zu sein. Das Gefühl, dass man gerade erst eine Idee von einem Ort bekommt, wenn man ihn auch schon wieder verlassen muss. Und dieses Gefühl greift doppelt, wenn man zum allerersten Mal wo ist. Jedes Mal wieder ist es ein Ringen darum, welche Erinnerungen man zu guter Letzt noch auf seine innere Festplatte schreiben will…
Da wir den letzten Abend so unaufgeregt wie möglich genießen wollen, entscheiden wir uns für ein entspanntes Abendessen und ein wenig mehr Zeit am Meer. Schließlich ist es das Meer, das uns im heimatlichen Berlin immer und immer am meisten fehlt.
Am Wasser stehen und die glatt geschliffenen Steine unter unseren Füßen spüren. In der Ferne den unverwechselbaren Klang der wirbelnden Steine hören, die übereinander fallen, jedesmal wenn das Wasser sich ins Meer zurück zieht. Und dabei ein weiteres Mal, ein letztes Mal, die wundersame „Murmuration“ der Stare betrachten.
Das Skelett des abgebrannten West Pier, Zeuge einer strahlenden Vergangenheit, versinkt langsam im Dunkel. Und wie jeden Abend erhellen die Lichter einer neuen Zukunft die Szenerie, wenn das jüngste Bauwerk Brightons sein Nachtgewand anlegt.
Der Klang des Straßenmusikers an der Promenade verschwimmt mit dem Rauschen der Brandung
„There are cities underneath cities,
cities beneath the sea. And the magic of stones,
when taken back home, is left on the beach“
– Gravenhurst –
Mit Dank an Visit Brighton für die Einladung!
Fotos
Laura Droße, Constantin Gerlach
Text
Laura Droße