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365
in der Nacht zwischen Alt und Neu
Ein Jahr verabschieden, ein Jahr begrüßen.
365 Seiten, beschrieben mit Erinnerungen und Erfahrungen, gefüllt mit Veränderungen oder auch Beständigkeit hinter sich lassen.
365 leere Seiten voller Verheißung und Neugier vor uns…
Wenn sich alles auf die große Party vorbereitet, werde ich ganz ruhig.
Die Sehnsucht nach dem Jahresende wächst seit einigen Wochen. Ich will nichts Neues mehr beginnen in diesen letzten Tagen auf der alten Seite.
Die Ruhe, die einkehrt, ist begleitet vom Wissen all dessen, was im letzten Jahr vollbracht wurde.
Das Rad hat sich weitergedreht, der Horizont sich erweitert.
Ich bin nicht mehr die, die ich vor 365 Tagen war und doch gleichzeitig die, die ich seit fast 35 Jahren bin.
Diese Klarheit und Dankbarkeit braucht keinen Lärm. An diesem einen Tag im Jahr, an dem der Luftdruck sich zu ändern scheint, und das winterliche Himmelsgrau voller Versprechen steckt, brauche ich nur Dich und die Erde um mich.
Diesmal werden wir zu viert sein, wir beide, zwei Freunde, irgendwo im Norden.
Wo genau habe ich mir nicht angesehen, lasse mich überraschen. Alte Bäume und hohes Gras, und mittendrin auf einer Lichtung unser Zuhause für diese Nacht, unsere Zuflucht vom urbanen Chaos: Eine mongolische Jurte, kleiner Holzofen, draußen eine Feuerstelle, an welcher wir unser Silvestermahl zubereiten werden. So wenig, so perfekt, so alles.
Holz hacken, das Feuer entfachen, Gewürze mörsern. Langsam steigt der Duft des heißen Glühweins in meine Nase. Der kleine Ofen lässt die Jurte schnell warm und heimelig werden, der flackernde Schein des Feuers, das unregelmäßige Knacken des Holzes… wir vergessen augenblicklich die Zeit. Die Welt außerhalb dieser kleinen Zuflucht hat aufgehört zu existieren.
Die Kartoffeln liegen in der Glut, während der Lachs, vom Wind bestimmt, an den Flammen gegrillt wird. Alles ist entschleunigt, alles hat Zeit, dauert und es ist egal.
Es könnte acht Uhr im alten Jahr sein oder schon längst vier Uhr morgens im neuen Jahr.
Beinahe zufällig gucken wir drei Minuten vor Mitternacht auf die Uhr, sagen uns leise die besten Wünsche, lassen jeder eine symbolische Rakete in den schwarzen Nachthimmel steigen.
Ein dumpfes Knallen in der Ferne wiegt uns in einen sanften Halbschlaf, bevor in den frühen Morgenstunden ein Sturm und trommelnder Regen das neue Jahr einläuten.
Ich liege eingemummelt und still, kann hören wie sich die Bäume biegen, wie Winde über das Land ziehen, aufbrausend über uns hinweg poltern und in der Ferne langsam verhallen.
Sturzmassen Wasser spielen ein Lied und noch immer liege ich still, fühle mich klein und unbemerkt und gleichzeitig Teil von Allem.
Schlafen die anderen eigentlich? Oder liegen sie ebenso still wie ich, still, zufrieden und ohne eine einzige Frage?
Am Morgen ist das Unwetter vorbei. Der Boden ist matschig, die Glut des Feuers vollständig erloschen und eine kalte Morgensonne liegt über der Szenerie und zwingt mich die Augen zusammen zu kneifen.
Holz hacken, Kaffee machen, Äpfel für das Porridge schneiden. Ein ruhiger erster Morgen.
In einvernehmlichem Schweigen räumen wir auf, unsere Sachen ins Auto und unsere Gedanken zusammen.
Der Geist erfüllt von so vielem, so Großem. Durch so wenig, so Kleines. Das ist es, das echte Glück.
Wir nehmen es mit uns und schreiben es leise auf diese erste Seite.
Fotos
Constantin Gerlach, Laura Droße
Text
Laura Droße