Wir sind Teil der Natur. Lausche dem Klang: Wir sind Natur. Ich bin Natur. Wie fühlt es sich an? Aufregend? Seltsam? Ungewohnt? Oder vielleicht: Wunderschön?
Während der letzten Jahrhunderte hat sich die Menschheit mehr und mehr von Wäldern und Ozeanen abgeschottet, vonn Wüsten und Bergen. Sie hat stattdessen ihre eigenen Landschaften aus Beton, Glas und Stahl erbaut – und dadurch ihre Verbindung zur und ihre Einheit mit der natürlichen Welt verloren. Gleichzeitig scheinen auch immer mehr Menschen ihre Zufriedenheit, Verbundenheit und ihren inneren Frieden zu verlieren.
Die Natur lebt in uns, genau wie wir in ihr leben sollten. Und wann immer wir es zulassen, können wir uns wieder mit ihr verbinden, ihren Klang hören und ihren Rhythmus spüren. Für vier Wochen sind wir unserem Alltag entflohen und haben in Schweden zwischen Wäldern und tausend Seen unsere eigene Version des „Friluftsliv“gefunden.
„Friluftsliv“ setzt sich aus den Worten frei, Luft und Leben zusammen, wobei frei das Wesentlichste der drei ist. „Frei“ verbinden wir meist mit Vorstellungen wie weit, offen und auch ohne Limits oder Grenzen – und genau diese Vorstellungen müssen wir nun nicht mehr nur auf äußere Landschaften anwenden, sondern auch auf unsere Sinne und unsere inneren Räume, unseren Geist.
Was ist es, das ein Lagerfeuer so beruhigend macht, so „genug“? Wie kann einfach nur dazusitzen, und dem Feuer beim Brennen zuzusehen anscheinend die Macht haben jede*n auf eine ganz bestimmte Art zu berühren, und einen Frieden erwecken auf beinahe spirituelle Art? Und so faszinierend allein diese vereinende Qualität ist, ist es beinahe noch beeindruckender, dass die Stadtmenschen aus der heutigen Epoche, ständig auf der Suche nach einer neuen Art der Befriedigung, nicht gelangweilt sind von einem Feuer, das einfach nur brennt.
In Schweden wird alles erklärt werden, das Geheimnis des Feuers, wie auch meine Liebe für Assymetrien. Der Kodierungsschlüssel? Ein wenig Biologie und eine einfache Wahrheit: Wir sind Natur.
Hans Gelter, Wissenschaftler an der Technischen Universität in Luleå, den ich bei einer anderen Reise ins Schwedische Lappland vor ein paar Jahren kennenlernen durfte, hat die Philosophie hinter „Friluftsliv“ erforscht und erklärt eine simple Tatsache: In der Natur gibt es nichts, dass gerade oder gleichförmig ist, nichts ist eben oder gleichbleibend.
Es ist spät im September und die schwedische Landschaft hat sich in ein farbenfrohes Fest für die Sinne verwandelt. Während die unzähligen Koniferen ihr dunkles Grün behalten, zeigen sich die Birken, Buchen und Ulmen in allen denkbaren Schattierungen von Gelb, Orange und Rot. Birkenblätter bedecken die Oberfläche von kleinen Wellen am Seeufer und wirbeln mit den ersten kühleren Herbstwinden durch die Luft. Seenebel schleicht von der Bottensee heran, ein feuchter Dunst streift sanft unsere Gesichter.
Für lange Strecken folgen wir nur einer einzigen Straße durch dieses weite Land. An den meisten Tagen gibt uns unser Navi Anweisungen wie „Folge der Straße für 48km geradeaus!“, was uns Stunden voller frei fliegender Gedanken und Beobachtungen erlaubt.
Gleichwohl ist es abseits der Straßen, wo uns das echte Friluftsliv erwartet; wo nicht nur unser visueller Sinn mit neuen BIldern stimuliert wird, sondern sogar die Sinne, welcher wir uns oftmals nicht einmal bewusst sind: Der Klang von hämmernden Spechten und kämpfenden Auerhähnen klingt neu in unseren Ohren, bei einer Wanderung auf dem „Kustleden“ liegt plötzlich der „Geruch nach nassen Tieren“ in der Luft… der moosige Boden unter unseren Füßen fühlt sich weich und beinahe wie ein Kissen an und überrascht uns in Farbtönen von lila, grün und weiß.
Die unfassbare Süße der frisch gepflückten Blaubeeren, aus einem Überfluss an Sträuchern zu beiden Seiten des Weges… Und als uns der Pfad durch steiniges Gelände führt, wird auch unser Tastsinn aktiviert, als wir uns an kalten Steinen und nassen Baumstämmen festhalten und auf rutschigen Felsen balancieren – eine ungewohnte Herausforderung auch für die eingerosteten städtischen Knöchel und Füße.
Wir folgen dem „Vildmarksvägen“, einer Route, die beinahe die norwegische Grenze streift und überqueren auf ihr auch die höchste fahrbare Straße Schwedens, den „Stekenjokk Pass“. Allmählich beginnen die nebligen Wälder zu verschwinden und die Szenerie einer Hochebene erscheint zu beiden Seiten der Straße. Hügelige Ebenen ziehen sich bis zum Horizont und weit entfernt können wir die markanten roten Holzkreuze erkennen, die einen weiteren der zahllosen Wanderpfade kennzeichnen, die das Land durchziehen.
Eine Rentier-Herde grast ruhig in der Ferne, die glatte Berglinie liegt unter einem sanft wolkigen Himmel, während goldene Sonnenstrahlen auf die Kulisse fallen. Es ist beinahe unerträglich in seiner Schönheit und zweifellosen Natürlichkeit. Obgleich ich aufgeregt bin, verlangsamt sich mein Herzschlag. Vorsichtig laufe ich zwischen den Sträuchern in die sumpfigen Wiesen.
Das Gurgeln eines kleinen Baches fängt meine Aufmerksamkeit und ich erkenne die Bewegungen der Wolken in ihm gespiegelt. Ein erbarmungsloser Wind biegt das Wollgras und beißt in meine Wangen. Und als meine Füße bei jedem Schritt ein wenig einsinken, bin ich in gänzlicher Harmonie mit meiner Umgebung und mein Geist wird völlig von der Landschaft absorbiert. Zeit hört auf zu existieren und ein tiefer innerer Friede erfüllt mich.
Wir werden viele weitere dieser Augenblicke sammeln und sie in unserem Geist mit uns nehmen. Wir werden Samí Malereien an einem Wasserkraftwerk sehen, eine Bitte an die Ahnen das ausgebeutete Land zu schützen; wir werden uns gegen kräftige Winde stellen, welche Wellen erzeugen und einen See in einen Ozean verwandeln; wir werden zum Trollsjön wandern (Rissájávri auf Northern Samí), begleitet von frischer, klarer Luft und einer ersten Winterkühle, von tief hängenden Wolken und unbarmherzigen Winden;
von der ungeheuren Weite des Kärkevagge Tals, das immer nur noch weiter wird, wann immer wir einen Grat erreichen. Und auf unserem Rückweg vom plötzlichen goldenen Sonnenlicht, als sich der Blick vor unseren Augen auftut und bis zu den Schneekuppen auf den norwegischen Bergen reicht.